Es ist an der Zeit… Operationstag neun Stunden warten


Diese Serie beginnt mit dem ersten Teil, der letzte vor diesem Beitrag ist der siebte Teil über die Untersuchungsergebnissse und die Diagnose.

Die weiteren Gespräche, wen ich informieren wollte, habe ich ziemlich eingeschränkt und auf die wichtigsten beschränkt. Telefonieren war ja nicht wie heute mit Mobiltelefon und nebenbei, sondern abends an der Telefonzelle, mit passendem Kleingeld. Nicht immer klappte es bei allen sofort sie zu erreichen. Roland war in England Fahrradfahren, der war nicht erreichbar. Ich rief meine beste Freundin an und den Vater des Kindes, alle anderen würden dann schon benachrichtigt.

In den letzten Tagen vor der Operation war es so eine Mischung aus ungeduldigem Warten und der Hoffnung, die Zeit gehe nicht so schnell vorbei, denn womöglich wären das die letzten Tage mit meinem Kind… Er musste seit Einlieferung ständig eine Halskrause tragen. Hätte man vor der Fahrt nach Freiburg schon gewusst, wie knapp das Ganze ist, dann hätte ich nicht selbst fahren dürfen. An jedem Tag bestand das Risiko, dass das Rückenmark durch den Tumor irreparabel geschädigt wird. Es war eine lange Zeit, diese Tage bis zur Operation.

Am Abend vorher hatte ich Mühe einzuschlafen. Ich höre Wecker nur sehr schlecht und hatte panische Angst, nicht rechtzeitig wach zu werden. Als Nachteule war für mich der Termin sieben Uhr in der Kinderklinik, um das Kind zu begleiten extrem früh. Ich sagte mir selbst, dass es trotz meiner Schwierigkeiten Wecker zu hören nie schief gegangen war, ich hatte immer gehört, wenn er nachts wach wurde, ich hatte nie verschlafen, wenn etwas mit mit meinem Kind war. Auch dieses Mal klappte alles, ich hatte nicht viel geschlafen, aber ich hörte den Wecker sofort.

Donnerstag, 13. August 1998

Der Vater, kam frühmorgens am Operationstag, er begrüßte unseren Sohn in der Kinderklinik, er fuhr nicht mit ins Hauptgebäude und wollte nicht mit in die Anästhesie, aber ihn überhaupt hier zu wissen, war für unser Kind sehr wichtig. Unser Junior wusste, dass sein Vater normalerweise kein Krankenhaus betreten würde, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe. Umso höher schätzte er, dass sein Vater schon morgens da war.

Klopfer durfte mit bis in die Anästhesie, er bekam eine Mini-OP-Mütze, damit sah er aus wie alle anderen im OP. Eine Schwester erklärte unserem Sohn, dass ich ja auf Klopfer aufpassen würde, er wäre dann auch sofort wieder da, wenn er aufwacht.

Auch ich war froh, dass ich nicht allein war, sondern dass der Vater unseres Kindes ebenfalls hier war. An diesem Tag stand nichts zwischen uns, die Trennung war unerheblich, wir teilten uns ja seither die Betreuung unseres Sohnes und waren uns in Bezug auf ihn überwiegend einig. Als ich aus der Anästhesie kam, setzten wir uns in den Garten, und ich erzählte ihm noch die letzten Details, die er beim Vorgespräch, bzw. am Telefon noch nicht gehört hatte. Viel war das nicht, denn alle Ergebnisse sagten, abgesehen von dem Tumor und seinen Auswirkungen, war unser Sohn kerngesund und altersgerecht gut entwickelt.

Wir wussten, die Operation würde wohl so drei, vier Stunden dauern. Es war klar, dass das Risiko hoch war, dass das Rückenmark verletzt werden könnte, bzw. verletzt werden müsste, um den Tumor vollständig zu entfernen. Auszuschließen war auch nicht, dass unser Sohn, die OP nicht überlebt, das käme nicht oft vor, aber ganz sicher sei eben keine Operation. Selbst bei optimalem Verlauf war nicht klar, welche Konsequenzen er nicht nur kurzfristig, sondern Zeit seines Lebens davontragen würde.

Ich weiß nicht mehr genau worüber wir noch sprachen, es drehte sich alles irgendwie um unser  Kind und darum zu hoffen, dass die OP erfolgreich verläuft. Irgendwann so nach zehn Uhr, sagte ich auf der Station Bescheid, dass wir mal ins Paradies gehen würden, Kaffee trinken. Bis dahin war nur klar, dass immernoch operiert wurde und noch kein Ende absehbar war. Das Restaurant Paradies ist nur wenige Meter von der Kinderklinik entfernt, dort gibt es richtig guten Milchkaffee, eine sehr angenehme Atmosphäre, sowohl innen, wie auch im Garten. Dort wären wir auch telefonisch erreichbar, vormittags war es dort meist sehr ruhig.

Wir warteten, wir überlegten ein weiteres Mal, ob wir irgendetwas hätten tun können, damit es nicht soweit gekommen wäre, dass der Tumor so groß war. Wieder kamen wir zu dem Ergebnis, dass wir nichts verpasst hatten, wir hatten sofort reagiert, wir waren immer und immer wieder mit unserem Kind beim Arzt. Die Orthopädin hätte beim Termin im April die Sache ernster nehmen sollen, statt sich auf die Röntgenbilder vom Januar zu verlassen, aber sonst gab es nichts, was an der heutigen Situation etwas geändert hätte.

Warum er, warum ausgerechnet unser Sohn? Warum nicht irgendwelche unsympathischen Erwachsenen, von denen es doch genug gab? Auf diese Fragen gab es keine Antwort. Wir hätten beide vorgezogen, dass wir betroffen wären, statt unseres Kindes.

Irgendwann wurden wir wieder nervös, hatten Bedenken, die OP könnte schon vorbei sein,  vielleicht habe das Telefonieren nicht geklappt, deshalb gingen wir wieder zurück. Noch immer nichts Neues, die Nachfrage im Hauptgebäude brachte nur die Information, dass noch immer operiert würde. Wir warteten weiter, jetzt wieder im Garten der Kinderklinik. Immer mal wieder ging ich zur Station, fragte, ob es denn noch immer nichts Neues gäbe. Sie empfahlen uns mal was zu essen, es gäbe nichts Neues, essen wollten wir jedoch beide nicht.

Warten, warten, warten…

Am frühen Nachmittag kam der Hinweis, wir könnten auch nochmal weg, erst jetzt gerade habe der zweite Teil der OP begonnen. Wir gingen nochmal ins Paradies. Irgendwann sagte der Vater meines Sohnes:

„Wenn ich damals gewusst hätte, dass er diesen Tumor bekommt, dann hätte ich mich nie entschieden ein Kind in die Welt zu setzen.“

Über diesen Satz habe ich nicht nur damals, sondern auch danach oft nachgedacht. An diesem Tag überlegte ich, was hätte ich getan, wenn ich mein Kind an diesem Morgen das letzte Mal lebend gesehen hätte. Ich dachte darüber nach, was hätte ich getan, wenn mein Sohn nach dieser Operation querschnittsgelähmt und für den Rest seines Lebens an einer Beatmungsmaschine angeschlossen wäre. Ich versuchte mir vorzustellen, was hätte ich getan, wenn jetzt alles gut ginge und er einfach gesund wird.

Ja, ich hätte vieles getan, um meinem Kind diese Zeit zu ersparen.  Es ist schwer einzuschätzen, was man getan hätte, denn selbst, wenn ich vor der Entscheidung ein Kind zu bekommen, gewusst hätte, dass er einen Tumor haben wird, ich hätte nicht gewusst, wie das ist. Und was hätte ich gewusst? Dass er einen Tumor hat? Wie es dann schlussendlich ausgeht? Wie er es sieht? Was er gewollt hätte?

Unterm Strich zehn Jahre später

Wäre dieser Tag das Ende gewesen oder der Anfang eines Lebens an einer Beatmungsmaschine, hätte ich das sicher vorher gewusst, dann hätte ich kein Kind gewollt. Lieber hätte ich auf die wunderschönen neun Jahre mit meinem Kind verzichtet, als ihn dieser Situation auszusetzen.

Hätte ich gewusst, dass es diese Zeit mit Tumor und OP gibt, aber mit gutem Ausgang, dann weiß ich bis heute nicht, was ich getan hätte. Ich bin froh, dass niemand vorher weiß, wie das Leben eines Kindes verlaufen wird.  Aus meiner Sicht ist es gut, dass niemand eine solche Entscheidung treffen muss.

Die Operation begann um acht, inzwischen war es bereits nach drei Uhr, wir gingen wieder zurück, denn eigentlich hätte doch nach drei, vier Stunden alles vorbei sein sollen. Wieder meldete ich mich auf der Station, fragte, ob es etwas Neues gäbe, nein, noch immer nichts, noch immer sei das Kind im OP. Es waren jetzt bereits über sieben Stunden. Ich ging wieder in den Garten, was hätten wir auch sonst tun sollen. Etwa alle halbe Stunde ging ich hoch zur Station und fragte, falls irgendwer doch nicht gewusst hätte, dass wir im Garten warteten…

Wir redeten und überlegten gemeinsam, ob das jetzt gut oder schlecht war, dass es soviel länger dauerte, als angekündigt. Beide hatten wir die Befürchtung, dass etwas furchtbar schief gegangen war und die Ärzte jetzt versuchten noch das bestmögliche daraus zu machen.

Endlich eine Nachricht

Es war nach fünf Uhr nachmittags, als ich wieder hoch ging, und wieder fragte. „Ihr Sohn ist aus dem OP raus, er ist bereits aus der Anästhesie geweckt worden und liegt wird gerade auf die Intensivstation verlegt.“ „Die operierende Ärztin erwartet meinen Rückruf.“ Raus aus dem OP, geweckt worden – er lebt! Nach  den längsten neun Stunden meines Lebens, zumindest das: er lebt! Sofort wählte die Schwester und ich hatte die Ärztin am Apparat.

Es ist alles gut verlaufen, es hat zwar ein bisschen gedauert, aber jetzt ist alles weg, soweit es eben auf den ersten Blick erkennbar war. Vorsichtshalber habe ich noch einen Halo eingesetzt, das sieht zwar etwas merkwürdig aus, aber das ist einfach sicherer.  Sie können  jetzt gleich los gehen, bis Sie hier ankommen, können Sie ihr Kind bereits auf der Intensivstation besuchen. Wir sehen uns dann morgen und besprechen dann alles Weitere.“

Ich lief sofort los und benachrichtigte den Vater. Gemeinsam gingen wir rüber zum Hauptgebäude. Der Vater wollte nicht mit rein, er meinte es genüge, wenn ich reingehe, er warte dann auf mich im Paradies. Kurz war ich irritiert, aber ich kannte ihn seit rund zwanzig Jahren, deshalb wunderte ich mich kaum. Vor der Intensivstation musste ich dann doch nochmal warten, bis ich reindurfte. Ein diensthabender Arzt, der wohl teils bei der OP dabei war, erklärte mir noch irgendwas, aber das war der falsche Zeitpunkt. Ich verstand nichts, ich wollte gerade auch nichts wissen, ich wollte zu meinem Sohn. Nichts anderes interessierte mich im Moment.

Krankenhäuser und Besuche dort, kenne ich von klein auf. Schon mein Großvater war sehr oft im Krankenhaus, mehrfach auch über Wochen, oft auch auf der Intensivstation. Auch hatte ich bereits Erfahrungen mit Krebs, zwei, mir nahestehende Menschen waren daran gestorben. Ebenfalls hatte ich schon einige kleinere Unfälle mitbekommen, war schon dabei, wenn jemand am Kopf genäht werden musste, und und und. Außerdem hatte ich in den letzten drei Wochen hier vieles gesehen und mitbekommen. Ich war auf einiges gefasst und ich bin auch nicht sehr empfindlich.

Erster Besuch auf der Intensivstation

  • Skizze eines Tumors über mehrere Wirble der HalswirbelsäuleSKizze: HWS mit Tumor

Als ich zu meinem Kind durfte, hatte ich jedoch Mühe den Schock zu überspielen. Mir war überhaupt nicht klar, was die Ärztin gemeint hatte, mit „einen Halo angebracht„. Sein Vater sagte nachher, ihm wäre klar gewesen, was das heißt. Er habe das mal in einer Fernsehsendung gesehen. Nun, mir war das alles andere als klar.

Das Kind lag in einem hochgestellten großen Krankenhausbett, um ihn rum und an ihm dran unzählige Schläuche, Kabel und Geräte. Der Kleine war neun Jahre alt, 1,39 m groß und wog 34,4 kg. Jedes Kind sieht in so einem großen Bett sehr klein aus. Eine Intensivstation und viele Apparate verbessern das nicht. Aber da war auch noch der Halo. Bis zu diesem Moment wusste ich nicht, dass man am menschlichen Kopf von außen Schrauben setzen kann. Dieser kleine Kerl, nicht nur blass, verstört und sichtlich gezeichnet, sondern auch noch mit einem offensichtlich, am Kopf verschraubten, riesigen Gerüst.

Meine jahrzehntelange Übung in Grenzsituationen äußerlich völlig ruhig zu bleiben, zahlte sich jetzt aus. Mein Kind merkte nichts von meinem Schock, ich reagierte ruhig und zuversichtlich. Es ging ihm schlecht, aber er sprach, er hatte Durst und wollte irgendwann nur noch schlafen. Nach rund eineinhalb Stunden meinte die Schwester, dass er aufgrund der Medikamente sicher nicht mehr wach würde. Ich solle jetzt ruhig gehen, sie habe meine Telefonnummern, falls doch etwas wäre, aber sie sei sicher, dass ich bis morgen früh nichts tun könne. Sie rate mir, mich jetzt auszuruhen, morgen sehe die Welt schon wieder anders aus.

Ich reagiere nicht ganz so heftig auf Krankenhäuser wie sein Vater, aber ich hasse die Atmosphäre ebenfalls. Nachdem ich mich versichert hatte, dass ich in jedem Fall benachrichtigt würde, falls mein Kind wach würde, ging ich daher. Sein Vater wartete im Paradies und sagte eben, dass er sofort realisiert hatte, was „einen Halo angebracht“ heißt. Im Grunde war es viel besser gelaufen, als befürchtet, aber durch das Gerüst, war da erstmal kein Platz, um das zu realisieren. Der Schock darüber saß bei uns beiden zu tief.

Wir unterhielten uns noch einige Zeit und versuchten die Anspannung etwas zu lockern, danach gingen wir zu der Elternwohnung und versuchten wenigstens ein paar Stunden zu schlafen. Der Papa besuchte seinen Sohn am nächsten Morgen noch kurz und fuhr dann wieder nach Hause.
Auf dem Bild, das viel später in der Wohnung des Vaters entstand, sieht man in etwa wie groß dieses Gerüst ist. Der Halo-Fixateur wurde mit je zwei Schrauben an der Stirn und am Hinterkopf fest verschraubt. Am Körper hielt der Halo durch eine starre, körperangepasste und mit Schaffell gefütterte Weste.


4 Antworten zu “Es ist an der Zeit… Operationstag neun Stunden warten”

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